Lesereihe »RedeFluss« am Freitag mit Reiner Kunze eröffnetAuch Signierwünsche erfüllte Reiner Kunze an diesem Abend

Andreas W. Mytze widmet dem Dichter ein Sonderheft seiner “europäischen ideen”

GREIZ/LONDON. Den “Reden und Gedichten” von Reiner Kunze widmet der in London und Berlin lebende Herausgeber Andreas W. Mytze ein Sonderheft der “europäischen ideen”. In den seit 1973 herausgegebenen Themen-Broschüren kommen Autoren zu Wort, die gegen jede Art von Diktatur und Unterdrückung anschreiben. Das nun vorliegende druckfrische Sonderheft beinhaltet neben zehn Gedichten unter anderem auch die Rede “Die Rückwärtswende herbeisehnen?”, die Reiner Kunze im Jahr 2014 an der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität vor dem Collegium Europaeum Jenense hielt. “Auch mit 81 Jahren ist Kunze keineswegs altersmilde geworden, wenn in der Linken noch immer die Fahnen der DDR und SED geschwenkt werden”, rezensierte dazu die Zeitschrift “Horch und Guck” in ihrer Dezemberausgabe des Jahres 2014. “Diejenigen, die die Rückwärtswende herbeisehnen, werden sich – haben sie die Macht errungen – die Diktatur nicht abermals vom ideologischen Brot des realen, demokratischen oder kreativen Sozialismus nehmen lassen. Sie haben gelernt”, sagt Reiner Kunze vor den Mitgliedern des Collegiums. Weiter führt er aus: “In den sechziger, siebziger Jahren war es für uns unvorstellbar, dass wir selbst noch eine Welt erleben würden, in der es keine DDR und keinen sowjetischen Machtbereich mehr geben wird. Ich habe meinen Optimismus damals immer auf die Kinder und Kindeskinder projiziert – und aus dies stets mit einem ‚vielleicht‘ versehen. Heute projiziere ich auf die Enkel und den Urenkel meine Sorgen – versehen mit einem ‚hoffentlich nicht‘.”
Der Förderverein der Gedenkstätte Hohenschönhausen ehrt Reiner Kunze mit dem Hohenschönhausenpreis 2014
Seit dem Jahr 2008 verleiht der Förderverein der Gedenkstätte Hohenschönhausen alle zwei Jahre den Hohenschönhausen-Preis. Der mit 5.000 Euro dotierte Preis wird an eine Persönlichkeit verliehen, die sich in “herausgehobener Weise durch wissenschaftliche Arbeiten oder interessante künstlerische Projekte oder journalistische Arbeiten um die kritische Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur verdient gemacht hat”, wie es in den Kriterien heißt. Reiner Kunze wurde dieser Preis im Jahr 2014 verliehen. In seiner Dankesrede geht der Schriftsteller darauf ein, was er mit dem Preisgeld tun wird: es “wird lediglich das Konto wechseln, nicht die Sinngebung.” Nach dem Tod der Eheleute Reiner und Elisabeth Kunze soll deren Passauer Haus in ein Ausstellungshaus umgewandelt werden. “Anhand von Schrift-, Ton-und Bilddokumenten, Kunstwerken und anderem Anschauungsmaterial soll der Hintergrund der Bücher sichtbar werden, also das von uns in der DDR und in der Bundesrepublik Erlebte, aus dem die Bücher hervorgegangen sind”, sagte Reiner Kunze in seiner Dankesrede. Um dieses Vorhaben zu verwirklichen, hatte das Ehepaar Kunze im Jahr 2006 die gemeinnützige Reiner-und-Elisabeth-Kunze-Stiftung ins Leben gerufen. “Der Geldbetrag des Hohenschönhausen-Preises 2014 wird ihr in voller Höhe zugute kommen”, so Reiner Kunze. Zur Verleihung des Franz-Josef-Strauß-Preises, im Mai 2015, geht der Ausgezeichnete auf einige Ereignisse in Ungarn und Deutschland ein, die den ideologischen Hass gegen Andersdenkende in den Fokus rücken. So war ein junger Soldat im Jahre 1960 in die BRD geflüchtet und beim Versuch, seine Frau nachzuholen, in eine Falle geraten und zum Tode verurteilt worden. “Für die Umwandlung der Todestrafe in lebenslängliche Haft auf dem Gnadenwege stand, dass die Fahnenflucht nicht im Krieg, sondern in Friedenszeiten stattfand, und der Fluchtgrund das Verlangen nach einem Leben in Freiheit war. Auch das jugendliche Alter des Straffälligen, seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen und die Tatsache, dass er Vater eines kleinen Kindes war, legten einen Gnadenerweis nahe. Aber dem Regime war die Verurteilung zum Tode zu wenig, es bestand auf der Vollstreckung des Urteils und verwarf das Gnadengesuch.” Den Abschiedsbrief an die Mutter unterschlug man; fand ihn dreißig Jahre später in den Stasi-Akten. “Ideologischer Hass ist eine der furchtbarsten Ausgeburten des Menschenhirns.”, sagte Reiner Kunze zur Preisverleihung. Der Franz-Josef-Strauß-Preis wird seit 1996 an Persönlichkeiten verliehen, die sich „in herausragender Weise für Frieden, Freiheit und Recht, für Demokratie und internationale Verständigung eingesetzt oder die sich besondere Verdienste in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie sowie Literatur und Kunst erworben haben.“

Retrospektive und Hintergründe:
Das Leben des Reiner Kunze

Am 16. August 1933 wurde Reiner Kunze in Oelsnitz als Sohn einer Bergarbeiterfamilie geboren, besuchte eine Aufbauklasse für Arbeiterkinder und legte das Abitur ab. Die Güte und Größe mit der er von den Eltern erzogen wurde, werden ihn für sein ganzes Leben prägen. Mit 16 Jahren trat er in die SED ein und studierte an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Journalistik und Philosophie. Nach dem Staatsexamen 1955 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent mit Lehrauftrag an der journalistischen Fakultät der Universität. “Ich war begeistert von der sozialistischen Idee”, wird er sich später erinnern. Geboren in einer armen Familie, in der es kein einziges Buch gab, war er dankbar für die Bildung, die er bekam. Doch wurde der zunächst Linientreue zunehmend von der DDR und dem real existierenden Sozialismus enttäuscht und desillusioniert. In der Universität musste er sich daraufhin mit massiven Anfeindungen auseinandersetzen. In dieser schweren Krise kündigte er 1959 seine Stelle, ohne seine Promotion zu beenden. Heute darauf angesprochen, sagt er: “Ich musste mich durch diese Ideologie erst hindurch denken.” Im Jahr 1961 heiratete Kunze die tschechische Ärztin Elisabeth, adoptierte deren Tochter Marcela und fand im vogtländischen Greiz als freier Journalist seine Wahlheimat. Dr. med. Stadtmann, ein bekannter Greizer Arzt, bot ihm die Möglichkeit des Aufenthaltes in Kottenheide bei Schöneck in einer Dachkammer seines Häuschens. Fast das ganze Buch “Der Löwe Leopold” ist dort entstanden. Dass es schließlich 1970 im Westen erschien, hatte sich Kunze in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemacht. In der DDR wurde es auf Anregung des damaligen Kulturministers zwar auch gedruckt, doch waren in der BRD zwischenzeitlich Kunzes “Die wunderbaren Jahre” erschienen, was die Stasi sehr verstörte. “Wir müssen Kunzes Seele weiterkneten”, hieß es in den Stasi-Akten, denen vor allem die Ausspähungen von IM Bongartz alias Manfred Ibrahim Böhme als Fundament dienten. Aus “sicherer Quelle” hatten Kunze und seine Frau Elisabeth, die damals als Kieferorthopädin in Greiz arbeitete, erfahren, dass an dem spätestens nach dem Erscheinen der Bücher “Brief mit blauem Siegel” und “Die wunderbaren Jahre” zum Staatsfeind avancierten Schriftsteller ein Exempel statuiert werden sollte. Acht bis zwölf Jahre Haft hätte es bei einem gegen ihn angestrengten Prozess in der Verurteilung geben können, wie der für das MfS arbeitende Schriftsteller Paul Wiens ihm steckte. Eine zweite, ebenfalls sichere Quelle ließ verlauten, dass man nach Stellen eines Ausreiseantrages und einem persönlichen Schreiben an den damaligen DDR-Chef Honecker jenen Prozess vermeiden und sofort die Republik verlassen könne. “Nie, wirklich nie, hatten wir jemals den Gedanken gehabt, der DDR den Rücken zu kehren”, erinnerte sich Kunze. Doch die Schlinge um den Hals der Kunzes wurde von Tag zu Tag enger. Neben dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR, was einem Berufsverbot gleichkam, hatte es unter anderem an der damaligen Erweiterten Oberschule Greiz, an der Kunzes Tochter lernte, Protestaktionen gegen das Erscheinen des Buches “Die wunderbaren Jahre” gegeben. “Kommt Zeit, vergeht Unrat” hatte der DDR-Schriftsteller Hermann Kant den Kunzes nach deren Weggang hinterhergerufen. Doch sollte der inzwischen deutschlandweit bekannte Dichter auch im Westen nicht problemlos leben und arbeiten können. Als er in Waldbad Kreuth zur Klausurtagung vor Mitgliedern der CSU über seine Erfahrungen in der DDR berichtete, wurde er von den Medien als Strauß-Intimus gescholten. Auch die kieferorthopädische Praxis, die Ehefrau Elisabeth in Passau unter hoher Verschuldung eröffnete, sei durch die Christlich-Soziale Union finanziert worden, worauf Kunzes heftig monieren. Bis weit in die 1990er Jahre habe er Psychoterror am Telefon ertragen müssen; bei einer Fernsehsendung im Jahr 1998 seien Störsignale der Telekom ausgerechnet an den Stellen, als Reiner Kunze sprach, gesendet worden. Dennoch sei die Maueröffnung das glücklichste Erlebnis seines Lebens gewesen. Im Jahre 1991 hatte Kunze mit einer Lesung in der Stadtkirche seine Verbeugung vor den Greizern gemacht und bezeichnete die politische Wende als Lebenswunder. Doch verschwieg er schon damals nicht die Zweifel, die ihn bewegten. “Nichts ist begehrenswerter als die Freiheit, aber auch nichts unbequemer”, wird er wissen lassen.

Quelle:
Andreas W. Mytze, Sonderheft “europäische ideen”
Sonderheft: Reiner Kunze – Reden und Gedichte 2014/2015
Bestellung über awmytze@hotmail.com

Antje-Gesine Marsch @05.02.2016