Lesereihe »RedeFluss« am Freitag mit Reiner Kunze eröffnetReiner Kunze bei seinen Ausführungen, wie man für Kinder schreibt

Am heutigen 16. August begeht der Schriftsteller und Ehrenbürger der Stadt Greiz, Reiner Kunze, seinen 85. Geburtstag

GREIZ. Am heutigen Tag begeht Reiner Kunze seinen 80. Geburtstag. Wer die Themen des Schriftstellers, Lyrikers und Ehrenbürgers der Stadt Greiz kennt, weiß um das Autobiografische, das seinen Texten innewohnt. Die Prosatexte und Gedichte des Büchner-Preisträgers wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Am 16. August 1933 wurde Reiner Kunze in Oelsnitz als Sohn einer Bergarbeiterfamilie geboren, besuchte eine Aufbauklasse für Arbeiterkinder und legte das Abitur ab. Mit 16 Jahren trat er in die SED ein und studierte an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Journalistik und Philosophie. Nach dem Staatsexamen 1955 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent mit Lehrauftrag an der journalistischen Fakultät der Universität.
„Ich war begeistert von der sozialistischen Idee“, wird er sich später erinnern.
Geboren in einer „armen Familie, in der es kein einziges Buch gab“ war er dankbar für die Bildung, die er bekam. Doch wurde der zunächst „Linientreue“ zunehmend von der DDR und dem real existierenden Sozialismus enttäuscht und desillusioniert. In der Universität musste er sich daraufhin mit massiven Anfeindungen auseinandersetzen. In dieser schweren Krise kündigte er 1959 seine Stelle, ohne seine Promotion zu beenden. Heute darauf angesprochen, wird er sagen: „Ich musste mich durch diese Ideologie erst hindurch denken.“ Im Jahr 1961 heiratete Kunze die tschechische Ärztin Elisabeth, adoptierte deren Tochter Marcela und fand in Greiz als freier Journalist seine Wahlheimat.

„Auch im Vogtland sammelten sich im Jahr 1968 die sowjetischen Panzer. „Man befürchtete Krieg“, so Reiner Kunze zur Veranstaltung „RedeFluss“, die am 1. Juni 2012 in der Greizer Vogtlandhalle stattfand. Er selbst sei durch seine Ehe und die Verbindung zu dort lebenden Dichtern sowie eigene Publikationen zu einem „Sicherheitsrisiko“ geworden. In Kunzes Wohnung in der Greizer Franz-Feustel-Straße meldete sich damals ein ehemaliger Kollege, „ein Setzerlehrling“, wie sich Kunze erinnerte. Nach zehn Minuten des Gesprächs wusste der Schriftsteller bereits, dass es sich nur um einen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit handeln konnte, der ihn zudem am Tag des Einmarsches, dem 21. August, morgens um 7 Uhr anrief, er solle an eine bestimmte Stelle der Stadt kommen. „Ich sollte aus dem Verkehr gezogen werden“, war sich Reiner Kunze sicher. Der damalige Superintendent empfahl ihm dringend, Greiz zu verlassen. „So wohnte ich drei Wochen in Ponitz bei Meerane über der Silbermannorgel auf dem Kirchendachboden“. Dr. Stadtmann, ein bekannter Greizer Arzt, bot ihm die Möglichkeit des Aufenthaltes in Kottenheide bei Schöneck in einer Dachkammer seines Häuschens. Fast das ganze Buch „Der Löwe Leopold“ ist dort entstanden. Dass es schließlich 1970 im „Westen“ erschien, hatte sich Kunze in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemacht. In der DDR wurde es auf Anregung des damaligen Kulturministers zwar auch gedruckt, doch war in der BRD zwischenzeitlich Kunzes Band „Die wunderbaren Jahre“ erschienen, was die Stasi „sehr verstörte“. „Die 15000 Exemplare wurden 1976 komplett vernichtet“, so Kunze. Dass ein Exemplar des Kinderbuches eines Tages in der Brottüte von „Ambachs Bäckerei“ auftauchte, können sich die Kunzes bis heute nicht erklären.

Anlässlich des 30. Jahrestages des Weggangs – viele Jahre sprach man von „Ausbürgerung“ – der Familie Kunze aus der DDR fand am 13. April 2007 in der Greizer Stadtkirche die Festveranstaltung „Gegen das Vergessen“ statt. Auf den Tag genau, vor dreißig Jahren hatte Reiner Kunze, nur knapp eine Woche nach Stellen des Ausreiseantrages die Stadt Greiz, in der er fünfzehn Jahre lang gelebt und gearbeitet hatte verlassen müssen. „Es gab damals für uns nur zwei Möglichkeiten“, so Kunze, der die Zeit vor drei Jahrzehnten in Gedanken noch einmal Revue passieren ließ. Aus „sicherer Quelle“ hatten er und seine Frau Elisabeth, die damals als Kieferorthopädin in Greiz arbeitete erfahren, dass an dem spätestens nach dem Erscheinen der Bücher „Brief mit blauem Siegel“ und „Die wunderbaren Jahre“ zum Staatsfeind avancierten Schriftsteller ein „Exempel statuiert werden sollte“. Acht bis zwölf Jahre Haft hätte es bei einem gegen ihn angestrengten Prozess in der Verurteilung geben können, so Kunze. Eine zweite, ebenfalls sichere Quelle ließ verlautbaren, dass man nach Stellen eines Ausreiseantrages und einem persönlichen Schreiben an den damaligen DDR-Chef Honecker jenen Prozess vermeiden und sofort die Republik verlassen könne. „Nie, wirklich nie, hatten wir jemals den Gedanken gehabt, der DDR den Rücken zu kehren“, erinnerte sich Kunze in bewegenden Worten. Doch die Schlinge um den Hals der Kunzes wurde von Tag zu Tag enger. Neben dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR, was einem Berufsverbot gleichkam, hatte es unter anderem an der damaligen Erweiterten Oberschule Greiz, an der Kunzes Tochter lernte, Protestaktionen gegen das Erscheinen des Buches „Die wunderbaren Jahre“ gegeben .“Wir hatten einen Grundkonflikt, aus dem Tausend anderer Konflikte erwuchsen“, so Kunze.
„Dann müssen wir eben gehen“, konstatierte das Ehepaar, das durch Diffamierung und Rufmord körperlich und seelisch geschwächt, das thüringische Greiz gen Westen verließ. Wie spontan diese Entscheidung fiel, zeigt sich beispielsweise in Kunzes Absagen eines für ihn dringenden Operations-Termines in Plauen. „Die Solidarität unserer Freunde und Bekannten war damals riesig“, so Reiner Kunze, der sich lächelnd an Dutzende von Koffern erinnert, die plötzlich in seiner Irchwitzer Wohnung standen. „Es musste ja alles ganz schnell gehen. Zum Beispiel sollte jedes Buch, das wir mitnehmen wollten, akribisch genau und in vierfacher Ausführung erfasst werden“, so der damals 74-Jährige, der seit seiner Ausreise im bayrischen Erlau, bei Passau, lebt und arbeitet.

Das Buch „Die wunderbaren Jahre“ wurde Kunzes bekanntestes Buch, das zugleich die endgültige Entzweiung mit der DDR-Regierung einläutete. In diesem Werk wurde die Kritik Kunzes am unmenschlichen DDR-System und dessen Anpassungsgehorsam laut.
Für die Darstellung verwendete er den Alltag der Jugendlichen aus der DDR; Insider erkennen in den Texten den Schulalltag an der Erweiterten Oberschule Greiz, an der Tochter Marcela bis zur 11. Klasse lernte. Als Folge der Veröffentlichung wurde Kunze 1976 aus dem DDR-Schriftstellerbverband ausgeschlossen. Zudem hatte Kunze öffentlich seinen Unmut über die Ausbürgerung von Wolf Biermann geäußert, was einem Berufsverbot gleichkam.
Nach zehn Jahren meldet sich Reiner Kunze mit dem neuen Gedichtband „Die Stunde mit Dir selbst“ zu Wort. In 42 Gedichten zelebriert er das Leben und nähert sich zum Schluss in behutsamen Worten dem Abschiednehmen. „Noch dämmert er, der neue tag. Doch sag ich, ehe ich’s nicht mehr vermag: Lebt wohl!“

Antje-Gesine Marsch @16.08.2018